Holgers Welt

Holger Roloff ist unser Wirtschaftsexperte im Landesverband Hamburg. Er zeichnet sich aus durch seine außergewöhnliche Einblicke in die Hintergründe unserer wirtschaftlichen Welt.

Aufstand der (Schein)Tote

Der Kommende Aufstand

Was würde mich also erwarten? Ich betrat das GOLEM durch einen schweren, dunklen Stoffvorhang mit großen hebräischen Buchstaben, der wie ein den Veranstaltungsraum schützendes Geschenk einer Synagoge wirkte, was schon mal sehr sympathisch war. Nachdem der Veranstalter des Publikumsandrangs einigermaßen Herr geworden war, begann Moderator Ole Frahm vom Hamburger Radio FSK sofort die Runde zu eröffnen. Es folgte eine Vorstellung der Podiumsgäste mit einem jeweils etwa 15 minütigen Statement zum Buch. Mit dabei ausschließlich als politisch „links“ verstandene Personen aus Politik und Publizistik. Dabei Andreas Blechschmidt, der mir eher blass – um nicht zu sagen ziemlich kleinkariert in Erinnerung blieb, indem er vor allem an einigen, ihm wohl zu literarisch-blumigen Formulierungen der Autoren, Anstoß nahm. Linke Spießer sind offensichtlich weder ausgestorben, noch wurde in diesem Fall der Sinn des Buches verstanden. Dazu muss ich anmerken, dass es sich dabei keineswegs um eine argumentativ intellektuelle Schrift mit akademischem Anspruch handelt, sondern in der Reihe so genannter Pamphlete steht und zu verstehen ist, was in Frankreich eine lange Tradition besitzt. Dabei handelt es sich um eine – Flugblätter auf Demonstrationen ergänzende, ausführlichere Form von sozialen Situationsbeschreibungen, welche Arbeiter, Angestellte, Studenten, Arbeitslose usw. erreichen, ansprechen und für soziales Engagement wachrütteln und aktivieren soll. Nicht mehr, aber auch nicht weniger kann und soll ein Pamphlet erfüllen. Darauf verwies dann auch richtigerweise Hanna Mittelstädt, die als Vertreterin des herausgebenden Verlages anwesend war. Sie erschien mir diesbezüglich auch am kompetentesten zu sein.

Ebenfalls zu Wort kam Karl-Heinz Dellwo, Ex-Mitglied der RAF, der offensichtlich aus seiner politischen Vergangenheit viel aufzuarbeiten gehabt hat. Entweder hatte er inzwischen gute Gründe sich bedeckt zu halten, weil ihm noch staatliche Stellen im Nacken sitzen, die ihm bei zu kritischer Äußerung das wohl schon politisch ohnehin ziemlich ausgetrockene Fell abziehen, oder er lebt aktuell neue Lebenslügen, die nicht besser sind als die aus vergangenen Zeiten. Das einzig wirklich authentische an seinen über weite Strecken spießig verklemmten, zahnlosen und halbgaren Äußerungen wirkende, eines sich selbst denunzierenden Altlinken, der inhaltlich völlig ausgelaugt, desillusioniert, angepasst, langweilig und das Gegenteil von erhellend war, lag in der finalen Aussage, er hätte auch keine Lösung auf die sozialen Fragen und würde deshalb zu vielen Punkten lieber schweigen wollen, was er dann auch glücklicherweise tat (Original-Wortlaut hier).

Doch den absoluten Vogel schoss an diesem Abend jemand anders ab – der Publizist Thomas Ebermann. Jedes mal, wenn er seine extrem versoffene Raucherstimme erhob (er qualmte zeitweise tatsächlich, bis Leute aus dem Publikum darum baten, das doch wegen der eh nicht so guten Luft zu reduzieren oder sein zu lassen), musste ich befürchten, dass er den nächsten Satz nicht überleben würde, sondern gleich vom Hocker fiele, die Veranstaltung sprengen würde und der Notdienst gerufen werden müsse. Also ich hätte mich in diesem Fall bestimmt nicht hinreißen lassen mit Mund zu Mund Beatmung parat zu sein, auch wenn ich sonst ja stets gerne hilfreich zur Seite stehe. Nein, also Ausnahmen bestätigen die Regel sag ich mal…da hätte ich andere durchaus vordrängeln lassen. Aus welchem Sarg dieser altlinke „Scheintote“ wohl gekrochen sein mag, wird wohl das Geheimnis des Veranstalters bleiben. Das alles wurde dann allerdings noch inhaltlich von seinen Aussagen „übertroffen“. Zu seiner verbogenen Körperhaltung passte dann, dass er verkündete, mindestens schon ein Dutzend mal in seinem politischen Leben gescheitert zu sein, was bei mir die Frage aufwirft, ob das nicht einen ausreichenden Anlass darstellt, mal darüber nachzudenken, woran das wohl liegen mag.. .

Fiktive SozialrevolteDann äußerte er seine empfundene Abscheu gegen zahlreiche, von ihm zitierte Passagen des Buches, ohne deren konkrete Zusammenhänge zu berücksichtigen, was die ersten spontanen, negativen Reaktionen im Publikum einbrachte. Auch die Verlegerin musste ihn deshalb korrigieren und auf die Schieflage seiner Argumentation hinweisen. Der absolute Gipfel war dann jedoch seine überholte, altmarxistische Interpretation zu der im Buch geäußerten Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsform und dem Zusammenhang, dass das Wegbrechen der Arbeit durch Automatisierung diese Produktionsweise letztlich historisch negiert und das Grab schaufelt, aus dem sich das System immer wieder durch die eigene Krisenverwaltung zu retten versucht. Ebermann meinte hingegen, das sei unsinnig, weil wenn dem so wäre, könnte sich der Kapitalismus heutzutage ja nicht mehr in seinen Formen reproduzieren. Es gäbe sehr wohl noch genug Arbeit, nur würde die eben ins billigere Ausland verlegt werden. Angesichts dieser ignoranten und von Unwissen geprägten Fehleinschätzung, kann ich nur konstatieren, dass da jemand offensichtlich bewusstseinsmäßig im Jahr 1968 stehen geblieben ist, die letzen Jahrzehnte verschlafen hat und direkt mit der Zeitmaschine ins Jahr 2011 katapultiert worden sein muss. Mit solch intellektuellen Gestalten sind soziale Aufstände oder gar eine Revolution in Deutschland garantiert nicht zu befürchten. Vom Aufbau einer anderen Gesellschaft ganz zu schweigen. Als ich den Veranstaltungsort während der folgenden Diskussion dann etwas eher verließ, war mir deshalb bewusst, dass es wohl besser sei, den dunklen, schweren Vorhang am Eingang über diesen Abend hinter mir wie einen Mantel des Schweigens zu schließen. Nur dieser Bericht mag dazu beitragen, ihn zu reflektieren und in soweit in Erinnerung zu behalten, als dass es sich beim Erscheinen des Buches und der ganzen Aufregung darum, durchaus um ein historisches Ereignis handelte, welches zumindest ich mit einem etwas anderen Bewusstsein habe wahrnehmen dürfen. Das möchte ich verbinden mit der Hoffnung, es sei noch anderen Besuchern so ergangen.

PS: Der Veranstaltungsort war noch ausbaufähig und aufgrund eines Balkens mitten im Raum nur bedingt geeignet, was die Sicht auf das Auditorium betraf. Das schien das sehr interessierte und aufmerksame Publikum jedoch nicht zu stören. Der Andrang war enorm, was die hohe Relevanz des Themas widerspiegelte. Der Veranstalter musste trotz zahlreicher Sitzmöglichkeiten sogar die vor dem Gebäude stehenden Holzstühle rein holen, um das Publikum einigermaßen zu versorgen und die Zahl der stehenden Gäste etwas zu reduzieren. Passte irgendwie alles zum typisch „linken” Szene-Millieu. Ich bekam eine Ahnung davon, wie ähnlich es wohl in Hafennähe in früheren Zeiten von Hamburg in proletarischen Kneipen und Lesezirkeln ausgesehen haben muss. Das Publikum war übrigens sehr gemischt von ganz jungen bis ganz alten Leuten. Auf jeden Fall war es erneut eine spannende soziale Forschungsstudie, um die Untiefen und Abgründe des kleinbürgerlichen Bewusstseins zu ergründen, was ich bei Gelegenheit gerne fortsetzen und hier davon berichten werde. (04.06.2011)

Massen-Sex, Moral und Marketing

Bezugnehmend auf das Handelsblatt lässt die bürgerliche Massenpresse am 19. Mai 2011 doch tatsächlich Reihenweise mit Schlagzeilen wie „Sex-Orgie als Belohnung“ (DER WESTEN), „Hier feierten die Versicherer ihre Sex-Orgie“ (BILD) oder „Live-Porno für Herrn Kaiser“ (STERN) ihrer Entrüstung darüber freien Lauf, dass bei der bekannten Hamburg Mannheimer International Versicherung (Sie wissen schon – die mit dem sauberen und netten Herrn Kaiser) seit Jahren eine Praxis herrscht, bei der für satte 3.000 Euro pro Mann „die 100 besten Vertriebsmitarbeiter“ in die Budapester Gellért-Therme schoffiert wurden. Dort öffneten dann diverse freizügige Damen, hübsch und ordentlich mit farbigen Armbändchen dekoriert und so kategorisiert für die niederen und höheren Ränge bis zur Geschäftsführung hinauf, nicht nur die Pforten des ehrenwertes Hauses, sondern auch ihre eigenen und waren bereit „jeden Wunsch“ auf separaten Zimmern oder im Pool zu erfüllen. Sicher wollten sich die Besten der Besten auf diese Art natürlich nur dahingehend und bis ins intimste Detail versichern, dass in Budapest das Leben auch in bester Ordnung abgesichert ist – eben ganz im Sinn ihrer eigenen Qualitätssicherung in Vertrieb und Marketing. Davon zeugten nicht nur lange Reihen nackt Schlange vor den Betten besagter Damen brav anstehender, die Standfestigkeit ihrer Männlichkeit im Marketing beweisender Helden der Versicherungskunst, sondern offenbar auch die Stempel an den Unterarmen der Damen, die man ihnen verpasste, nachdem sie Ihre Pflicht verrichtet hatten. Vor deutscher Gründlichkeit gibt es bis heute scheinbar kein Entrinnen. Hurra, wir sind Export-Weltmeister!!!

So weit die Fakten der Geschichte.

Das Interessante an diesem „Skandal“ kann darin gesehen werden, dass es deutlich erkennbar wird, warum man der kapitalistischen Form gesellschaftlicher Reproduktion eben nicht ernsthaft mit Kategorien wie Ethik und Moral kritisch zuleibe rücken kann, wie es oft und gerne versucht wird, denn darauf baut diese Form offensichtlich nicht auf.

Ethik und Moral sind keine überhistorischen, absolut gültigen Größen, sondern wandeln sich selbst mit der Zeit und den vorherrschenden Wertvorstellungen. Diese basieren speziell im Kapitalismus auf der allseits akzeptierten Vorstellung, dass alles, einschließlich der „arbeitenden Marktteilnehmer“, der Warenform zu unterliegen habe. So erscheint es den Wirtschaftssubjekten so, als wenn alles nur „eine Frage des Geldes“ ist, selbst die sozialen Beziehungen. Konsum sei identisch mit Leben an sich. Alles sei käuflich. Alles sei Wettbewerb. Alles sei Marketing.

Die größte Sorge des heutigen Ergo Versicherungskonzerns gilt deshalb laut genannten Presseberichten auch nicht den Damen oder der eigenen Kundschaft, sondern nur dem damit möglicherweise erlittenen „Imageschaden“. Selbst seitens des „Bundes der Versicherten“ sei es lediglich „verantwortungslos“ derartige „Parties“ „auf dem Rücken der Versicherten auszutragen“. Es handele sich um „überflüssige Ausgaben“, sprich man hat Angst um sein Geld.

Lässt man mal die dabei geheuchelte Doppelmoral beiseite, mutet diese Angst bei näherer Betrachtung sogar geradezu skurril an. Abgesehen davon, dass die Versicherung ja nur ihren „besten Vertrieblern“ zu „Motivationszwecken“ derartige „Parties“ spendierte (wie gesagt – Marketing über alles!), was ja systemisch der marktwirtschaftlichen Logik entspricht und somit durchaus im eigenen Interesse liegen müsste, sind die Ausgaben insgesamt kaum der Rede Wert, wenn man die Beträge z.B. mit dem in aller Welt angelegten Kapital der Versicherungen vergleichen könnte, Geld, welches auch einst gerne in mittlerweile prekäre Euro-Länder wie Griechenland, Portugal, Irland und Spanien zur Anlage transferiert wurde, um die eigene Rendite zu verbessern und im Sinne der Beitragszahler ein dickes Plus „zu erarbeiten“. Das sollte eigentlich die viel größere Sorge auslösen. Tut es aber nicht, denn gegen „moralisch saubere“ Ausbeutung fremder Völker hat der treu(doof)e Beitragszahler in der Marktwirtschaft natürlich nichts, zumal das alles gleichzeitig Ausdruck des Patriarchats ist. Oder denkt ernsthaft jemand, da seien auch weibliche Versicherungs-Vertrieblerinnen der Hamburg Mannheimer im ungarischen Pool dabei gewesen???

Über die Moral dieser Herrschaften möge sich bitte jeder selbst ein Urteil bilden. Ich denke das spricht sowieso für sich.

Mein Vorschlag lautet deshalb nur: wenn Sie das nächste Mal einem netten Versicherer begegnen – begrüßen Sie ihn doch ebenfalls nett mit dem neuen zum Marketing passenden Branchenspruch: Na, auch schon Damen in Budapest versichert? (21.05.2011)

 

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